Prozesstag 6 – 23.6.2020

Am 23.6.2020 begann um 9:30 Uhr der sechste Verhandlungstag.

Anwesend waren: Vorsitzender Richter Herrmann, Beisitzerin Frenz, Beisitzer Maletz. Zwei Schöffen. Sachverständige Frau Saimeh und Prozessbeobachter*innen.

Geladene Zeug_innen: Polizist_innen R., W., K. und Mi.. Passantin Frau W..

Zeuge R. wird zu seiner Erinnerung befragt. Er sagt aus, dass er zu einer Schlägerei gerufen worden sei. Dort angekommen, sei er weitergeschickt worden, weil sich an der Schlägerei beteiligte vom Tatort entfernt hatten, Anhand der Personenbeschreibung (er glaubt sich zu erinnern, dass ihm die von Kollegen gegeben worden sei) haben sie im Meisterweg die mitbeschuldigte Person gefunden und mitgenommen.
Zurück am Tatort habe er ein Opfer auf dem Boden liegen sehen. Vom Tathergang selber wusste er zu dem Zeitpunkt noch nichts.
Die im Meisterweg aufgegriffene Person wurde zum Alkoholtest mit auf die Wache genommen. Die Entscheidung zur Festnahme wurde dann dort von der Leiterin des ermittelnden Fachbereichs getroffen.
Interessant ist, dass er, wie er selbst sagt, den Tathergang eigener Angabe zufolge nicht kannte, aber schon von Mitbeschuldigten (Schwarz) und Opfern (weiß) sprach.

Der zweite Zeuge, Polizist W. wird zu seiner Erinnerung befragt. Er sagt aus, dass er mit einer Kollegin als erster vor Ort war. Als sie ankamen, sei die Auseinandersetzung zu Ende gewesen. Herr Prüße lief pöbelnd und aufgebracht herum und sagte, dass alle weg seien. Aus Richtung Bäckerei kam ihm M. entgegen, der etwas in der Hand hielt, was W. nicht erkennen konnte. Er forderte M. mit Pfefferspray drohend auf, sich hinzuknien und die Hände hinter den Kopf zu nehmen, was der auch tat. Was M. nun konkret in der Hand hatte, blieb im Dunkeln. M. konnte dann wieder aufstehen. M. forderte Witte auf, sich auch um die andere Seite zu kümmern. Denn sie seien rassistisch beschimpft worden.

P. sei dabei die ganze Zeit laut und aggressiv gewesen und habe die sudanesischen Männer beleidigt. Er habe gesagt, dass eine Freundin von ihm von mehreren Afrikanern eingekreist und betatscht worden sei. Er, P., habe nur helfen wollen. P. habe gesagt, dass M. die Steine geworfen habe, andere Personen haben gesagt, es sei eine andere Person gewesen.

Der Zeuge W. sagt er kenne P. schon lange. Der habe immer eine aggressive Grundstimmung. Er wird schnell körperlich aggressiv. W. kenne ihn aus der Drogenszene, Auseinandersetzungen in der Drogenszene und von Beschaffungskriminalität. P. sei dieses Mal für seine Verhältnisse wenig alkoholisiert gewesen. W. schilderte sehr eindrücklich, wie P. bei einem früheren Einsatz im Bereich der Herberge an einer Auseinandersetzung beteiligt gewesen sei zu der sie gerufen worden sind. „Als wir kamen, zog er sich das Hemd aus, nahm Boxerhaltung ein und wollte sich mit uns prügeln. Den Gefallen haben wir ihm nicht getan.“

Die Anwältin fragt, ob vor Ort eine Personenabfrage gemacht worden sei. W. verneint das und sagt, sie hätten das erst später auf der Wache gemacht und dann festgestellt, dass es einen Haftbefehl gegen P. gebe. Sie sind dann zum Krankenhaus gefahren, aber da war P. schon weg.
Im Nachherein betrachtet sei es ein Fehler gewesen, sie hätten schon vor Ort eine Abfrage machen müssen.

Er erklärt, dass er eine Anzeige wegen sexueller Belästigung zum Nachteil von Frau R. gestellt hat, weil P. ihm erzählt habe, dass sie belästigt worden sei. Eine Strafanzeige gegen die Deutschen wurde nicht gestellt.
Auf Nachfrage räumt W. ein, dass das wohl hätte nachgeholt werden müssen. Es sei aber nicht geschehen. Weiter räumt er auf Nachfrage ein, dass M. mit seiner Aufforderung, sich auch um die andere Seite zu kümmern, wohl recht gehabt habe.

Der nächste Zeuge K. schildert, dass sie zum Tatort kamen, als dort schon die anderen Kollegen waren. Passanten (!) hätten ihnen gezeigt, dass sich Beteiligte vom Tatort entfernt haben. Sie seien dann gleich weitergefahren. Sie haben dann ein Stück entfernt zwei (?) Schwarze Personen angehalten von denen einer eine Platzwunde am Kopf gehabt habe. Er habe nicht sagen können, wobei genau das passiert ist. Der Mann verhielt sich ruhig, war aufgebracht, aber nicht aggressiv. Er habe gesagt, dass sie von den Deutschen als „N***“. bezeichnet worden seien.

Befragt, ob er den Mann gefragt habe, ob er eine Anzeige machen wolle, konnte K. sich erst nicht erinnern, räumte aber ein, wenn es nicht in seinem Bericht stehe, dann habe er es wohl auch nicht gemacht.

Sie haben dann die beiden Fahrräder, die noch vor Ort waren gesichert und bei der Routineabfrage festgestellt, dass das eine gestohlen sei. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass es das Fahrrad von M. aus der Gruppe der „deutschen“ sein musste.

Die nächste Zeugin Mi. berichtet, dass sie zu einem Einsatz in die Bleckeder Landstrasse gerufen worden sei. Die Auseinandersetzung sei schon beendet gewesen, als sie ankamen. Sie sei auf Herrn M. getroffen, der an der Hand verletzt gewesen sei und dessen Alkoholtest 1,7 Promille ergeben habe. Trotzdem habe er keine Ausfallerscheinungen gehabt.

Nach dem Einsatz wurde Mi. zusammen mit ihrem Kollegen ins Krankenhaus geschickt, um die Personalien von M. und P. „abzugleichen“. Auf die Frage, was das genau hieße, meinte sie, dass sie die Namen schon gehabt hätten, aber keine weiteren Daten. Im Krankenhaus hätten sie einen Alkoholtest bei P. (ungefähr 1 Promille) und M. (ungefähr 1,2 Promille) gemacht. Auf Nachfrage räumte sie ein, dass sie vor Ort keine Personenabfrage gemacht haben. Erst bei der Rückkehr zur Wache. Dabei haben sie festgestellt, dass es einen Haftbefehl gegen P. gebe. Sie seien dann erneut zum Krankenhaus gefahren, aber da sei er schon weg gewesen.
Drei Tage später habe sie ihn in der Lüneburger Innenstadt gesehen und festgenommen.

Die nächste Zeugin ist die Passantin W.. Sie schildert ihre Erinnerungen. Sie sei von der Ritterakademie kommend dort entlang gefahren, weil sie zur Tankstelle wollte. Sie habe dann gesehen, dass jemand mit einem Backstein auf einen anderen losgegangen sei. Ihr Akku war leer, sie ist zu anderen Passanten gegangen, damit die Polizei angerufen werde. Sie habe dann gesehen, wie ein großer schwarzer Mann rückwärts stürzte. So wie das aussah, habe sie den Eindruck gehabt, der große Mann sei tot.
Auf Nachfrage der Anwältin zu der Person mit dem Backstein sagt sie, dass, soweit sie sich erinnere, er vorher nicht beteiligt gewesen sei. Erst nachdem der große Schwarze gestürzt sei, habe er von einem Steinhaufen einen Stein genommen.

Nach der Mittagspause ist die Sachverständige Frau Nahlah Saimeh dran.

Sie schildert aus den Gesprächen, die sie wegen Corona mit Trennscheibe machen musste. Sie hat Ramadan nicht noch einmal untersucht, sondern die Ergebnisse (Narben) aus der vorherigen Untersuchung übernommen, weil es keinen Grund gab, daran zu zweifeln.

Er ist das dritte (erster Sohn) von sechs Kindern. Sein Vater ist verstorben, seine Mutter lebt noch. Er ist in sehr kargen, armen Verhältnissen aufgewachsen. Seine Familie hat Reis und Erdnüsse angebaut. Je nach Ertrag der Felder gab es genug Essen oder eben nicht. Um zur Schule zu kommen, musste er jeden Tag acht Kilometer Fußweg zurücklegen. Sein jüngster Bruder hat in Frankreich Asyl bekommen.
Die Familie war nicht sehr religiös. Er sei viel geschlagen worden, von seinem gewalttätigen Vater, der sehr viel Alkohol getrunken habe, und von seinen beiden älteren Schwestern, die ihre erzieherische Tätigkeit in Form von Schlägen erledigt hätten. Auch in der Schule sei er häufig geschlagen worden.

Die Sachverständige bezeichnet ihn als still und zurückgezogen, ohne jedes Machtinteresse. Vier Jahre nach seiner Eheschließung im Jahre 2006 sei er nach Libyen gegangen, weil sie im Sudan kein Auskommen hatten. Er hat dort unter schlechten Bedingungen gearbeitet und als der Krieg ausbrach, ist er weiter nach Tunesien. Als es dort zu Kampfhandlungen kam, ist er wieder zurück nach Libyen. Von dort ist er später über Italien und Frankreich, wo er längere Zeit auf der Straße gelebt und sich von Müll ernährt hat, nach Braunschweig gekommen. Er hätte eigentlich nach Schweden gewollt. In Deutschland habe er in einem Restaurant gearbeitet und sei zur Schule gegangen und habe Deutsch gelernt. Sie habe ihn gebeten, ein paar Sätze auf Deutsch zu sprechen und meinte, er sei auf einem guten Weg gewesen, Deutsch zu lernen.
Er hat seit 2010 seine Familie nicht mehr gesehen. Seine Söhne sind jetzt 12 und 13 Jahre alt. Er sei sehr traurig, obwohl es ihm hier gut ginge und er sicher sei.

Bei seinem zweiten Aufenthalt in Libyen ist es 2013 nachts in dem Raum, in dem er mit acht anderen Männern gewohnt habe, zu einem Überfall gekommen. Vier bewaffnete Männer hätten sie überfallen und wollten alle Wertsachen haben, sie seien mit geschmolzenem Plastik (schmilzt bei 160° bis 200°) gefoltert worden, damit sie alles, was sie haben, herausgeben.
Er hätte danach drei bis vier Wochen nicht arbeiten und schlafen können, weil er Angst hatte, dass sich so etwas wiederhole. Er habe versucht, das Ganze wieder zu vergessen, aber wenn er im Fernsehen solche Dinge sehe, dann kämen die Erinnerungen wieder hoch.

An dem Abend vor der Auseinandersetzung habe er für die Schule, die ihm viel Freude gemacht habe, lernen wollen. Seine Freunde haben ihn überredet, mit ihnen zu feiern. Sie hätten dann zusammen gekocht und gegessen, viel getrunken und seien unterwegs gewesen.
Morgens, auf dem Rückweg nach Hause, sei er vorne gegangen und habe dann hinter sich einen Streit gehört. Er sei dann auch zu den anderen, die zu der Frau rübergegangen seien und habe schlichten wollen, aber die haben nicht aufgehört. Dann habe er M. fallen sehen und sah, dass er liegen bleib und dachte, dass M. tot sei. An das weitere Geschehen kann er sich nicht mehr erinnern, auch nicht daran, dass er mit einem Stein geschlagen hat.

Die Sachverständige bezeichnet Ramadan als einen weichen, sehr sensiblen, zurückhaltenden und strebsamen Menschen, der sich in seiner Muttersprache sehr differenziert ausdrücken kann. Er leide sehr unter der Situation.
Sie bezeichnet seinen bisherigen Lebensweg als in sehr kargen, armen Verhältnissen aufgewachsen. Er musste schon früh harte, landwirtschaftliche Arbeit leisten und hatte einen gewalttätigen Alkoholiker als Vater und eine sehr lieblose Kindheit. Er wollte bessere Verhältnisse und hat deshalb das Land verlassen. Immer wieder beschreibt sie ihren Eindruck von Ramadan als einen zurückhaltenden, zurückgezogenen eher ängstlichen Menschen, der Gewalt ausweicht, nicht aggressiv und nicht leicht reizbar sei. Während der Gespräche habe er oft angefangen zu weinen. Ramadan wirke authentisch berührt.
Sie kommt zu dem Ergebnis, dass keine Persönlichkeitsstörung vorliege. Er sei ein besonnener und zielstrebiger Mensch.

Eine Unterbringung in der Forensischen Psychiatrie sei gegeben für psychisch erkrankte Menschen, wobei die Erkrankung nicht nur vorübergehend sein dürfe. Bei jemandem, der völlig gesund ist, sei eine Unterbringung eine klassische Fehlentscheidung.
Sie führt weiter aus, dass aktive Migration immer eine lange Trennung von der Familie (hier Ehefrau und Kinder) bedeutet und den Verlust der kulturellen Bezüge. Das kann zu einer psychischen Erkrankung führen, sei bei Ramadan aber nicht gegeben.

Sie kommt an verschiedenen Punkten zu einem anderen Ergebnis als der vorherige Sachverständige.
Sie sieht folgende drei Punkte:

Der Alkoholkonsum. Ramadan hat seit seinem 17 Lebensjahr getrunken. Alkohol benutzt er als Stimmungsaufheller und Problemlöser. Seine Ehefrau stand dem kritisch gegenüber, was zur Folge hatte, dass er weniger getrunken habe. In Libyen habe er gar keinen Alkohol getrunken. Dass er mit 1,8 Promille keine Ausfallerscheinung hatte, zeige eine Gewöhnung an Alkohol. Es handele sich um typischen Alkoholmissbrauch.

Problematik von Depressionen. Ramadan sei zwar entwurzelt, traurig und weine viel. Das genau aber sei ein Zeichen dafür, dass er keine Depression habe, weil bei depressiven Menschen keine Stimmungen erkennbar seien. Auch dass er seine Schule motiviert absolviert habe, spricht nach Frau Saimeh gegen eine Depression.

Eine PTBS wegen des Überfall in Libyen sieht sie nicht gegeben. Ramadan hätte über eine gewisse Zeit nicht schlafen können und Angst vor einer Wiederholung gehabt, aber das sei jetzt nicht mehr der Fall. Außer dem Überfall habe er auch andere traumatische Erlebnisse gehabt, die Überfahrt auf einem überfüllten Schlauchboot, die Obdachlosigkeit in Paris und weitere.
Er sei dennoch ein ruhiger, friedlicher, sozial unauffälliger und strebsamer Mensch, der nie antisozial in Erscheinung getreten sei. Er verfüge über eine beträchtliche Resilienz.

Zur Tatzeit habe keine Störung gesundheitlicher Art vorgelegen. Durch den Alkoholkonsum aber eine deutliche Alkoholisierung. Es habe eine typische gruppendynamische Situation gegeben. Der Alkohol habe dabei eine Rolle gespielt. Da Ramadan dachte, der Freund sei tot, war dies eine hoch emotionalisierte Situation. Die Steuerungsfähigkeit sei vorübergehend ausgeschaltet gewesen. Nüchtern hätte er nicht so reagiert.
Die Gedächtnislücke erkläre sich als autoprotektive Reaktion, die eintritt, wenn das, was passiert ist, sich nicht mit dem Selbstbild in Einklang bringen lässt.

Die Sachverständige kommt zu dem Schluss, dass es eine dysfunktionale situative, zeitlich begrenzte Einengung der Steuerungsfähigkeit gewesen sei, die getriggert wurde durch Alkohol, Gruppendynamik und den Glauben, dass der Freund tot sei. Es gab einen Verlust an Impulskontrolle. Eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung kommt nicht infrage. Wohl aber eine akute, zeitlich begrenzte Bewusstseinsstörung durch die affektiv aufgeladene Situation. Es handelt sich um eine zeitlich begrenzte Situation, in der er nicht voll steuerungsfähig war.

Die Unterbringung in der Forensischen Psychiatrie war eine dramatische Fehlentscheidung. Notwendig sei eine ambulante Therapie, die insbesondere unterstützt, dass kein Alkohol mehr konsumiert wird. Außerdem sollte er externe Hilfe bekommen, um mit seiner Frau zu kommunizieren, dass er zu Unrecht in der Psychiatrie untergebracht worden sei, damit ihr glaubhaft versichert werden kann, dass Ramadan nicht „irre“ geworden ist.

 

Der nächste Termin findet am 9. Juli um 9.30 Uhr statt.