Prozesstag #4

04.03.2019

Anwesende Personen: Vorsitzender Richter, 2 beisitzende Richter, 2 Schöffen, Staatsanwalt, Protokollantin, Anwältinnen von Ramadan, Ramadan, Dolmetscherin, psychologischer Gutachter, ein Polizist und mehrere JVA-Angestellte. Rechtsanwalt der Nebenklage (nach Mittagspause erschienen).

Keine Vertreter*innen der Presse anwesend.

Der vierte Verhandlungstag begann mit der Ladung des Zeugen M., der als Freund von Ramadan ebenfalls vor Ort war. Er berichtete, dass sie an dem besagten Abend gut drauf waren und in der Stadt gefeiert haben. Ramadan sei ebenfalls guter Dinge gewesen. Er hatte sich bemüht, seine Familie nach Deutschland zu bringen und seine Anstrengungen seien vielversprechend verlaufen. Er hatte in Aussicht, seine Familie bald wiedersehen zu können.

M. sagte aus, dass die Zeugin R. ihn und seine Freunde rassistisch beleidigte, als sie auf der anderen Straßenseite auf dem Weg zur Tankstelle war. Sie rief Ramadan und seinen Freunden Sätze wie „Ihr scheiß N***, geht zurück nach Hause“ über die Straße zu. Zwei Freunde Ramadans wechselten auf ihre Straßenseite, um R. zur Rede zu stellen. Ramadan und M. wollten sich nicht in die Situation begeben und versuchten, ihren Weg nach Hause langsam fortzuführen. Erst als die zwei deutschen Männer zu R. und Ramadans Freuden kamen und begannen, die sudanesischen Männer zu schubsen, wechselten auch Ramadan und M. die Straßenseite. Ramadan rief, so Zeuge M., als er die Straße überquerte: „Hört auf mit der Scheiße“. M. sagt aus, P. aus der Gruppe der Deutschen zurück gehalten zu haben. In der Auseinandersetzung wurde auch M. verletzt, weiß aber nicht mehr wie das passiert ist.

Zeuge PHK W.

Als nächster Zeuge kam Polizeihauptkommissar W. in den Gerichtssaal. Er erschien mit seiner Dienstwaffe, was zur Beschwerde der Verteidigung führte. Der Richter erwiderte, das sei ’normal‘, die Anwältinnen könnten schriftlich Beschwerde einreichen, die er dann jedoch wiederum abweisen würde. Nach Rücksprache mit Ramadan wurde die Vernehmung fortgeführt.

PHK W. gab an, den Tatort erreicht zu haben, als die Schlägerei bereits beendet war. Er bekam von einem Freund Ramadans berichtet, dass diese von den Deutschen rassistisch beleidigt und angegriffen wurden. W. begleitete den verletzten P., der nach seinem Eintreffen immer noch aggressiv und sehr aufgebracht war, in den Krankenwagen, wo er ihn befragen wollte. Dabei habe P. mehrmals den Mittelfinger in Richtung Ramadans Gruppe gezeigt und sie lautstark beleidigt. P. riss sich während der Befragung den gerade angelegten Verband vom Kopf, sprang aus dem Wagen und versuchte mit erhobener Faust erneut auf einen Freund Ramadans loszugehen.

PHK W. hat eine „Anzeige von Amtswegen“ wegen sexueller Belästigung veranlasst, an die er sich angeblich nicht mehr erinnern kann. Auf Vorhalten der Verteidigung gibt er an, die Unterschrift darunter als seine eigene zu erkennen. Der Anzeige sind Vernehmungsprotokolle angehangen, in denen Zeugin R. angibt, dass sie nicht angefasst wurde und in der sie die explizite Nachfrage zu Übergriffen verneinte. Eine Anwältin Ramadans fragte nach, ob er die Anzeige auch veranlasst hätte, wenn er das Protokoll mitsamt der Aussage der Zeugin R. und ihrer Verneinung jeglicher Übergriffe gelesen hätte. Er bejahte die Frage und sagte, es hätte mit P. einen glaubhaften Zeugen für die Belästigung gegeben. Und damit genug Anlass, um „proaktiv“ tätig zu werden.

Die Nachfrage, ob PHK W. sich vorstellen könne, ähnlich ‚proaktiv‘ eine Anzeige wegen rassistischer Beleidigung gegen die Deutschen aufzugeben oder zu empfehlen, verneint dieser. Er hätte die Beleidigungen ja bereits in seinen Bericht aufgenommen und sähe keinen Grund, auch hier eine Anzeige aufzugeben.

In der Vernehmung des Zeugen PHK W. durch die Verteidigung kam heraus, dass er sich durch das Lesen von anderen Zeugen-Vernehmungsprotokollen auf seine Aussage vorbereitet hat. Auf Nachfragen der Verteidigung verneinte er sichtlich verunsichert die Frage danach, ob das so üblich sei.

Zeuge PK K.

Der nächste Zeuge, PK K., war auffällig vorbereitet. Er sprach fast schon druckreif, wie der Richter lakonisch kommentierte. PK K. befragte mit seiner Kollegin M. zwei Freunde von Ramadan nach dem Vorfall. Der von ihm befragte Zeuge sei anfangs aufgeregt, dann jedoch ruhig und kooperativ gewesen. Die Verständigung vor Ort habe nur unter Zuhilfenahme von ‚Händen und Füßen‘ funktioniert. Der durch ihn Befragte sei am Kopf und Ohr verletzt gewesen und begann am Körper zu zittern, sodass PK K. nach kurzer Zeit einen Rettungswagen rief.

Die akustische Situation im Gerichtssaal ist weiterhin katastrophal. Manche Mikros sind klar und deutlich, andere wirken so, als wären sie einfach ausgeschaltet.

Nebenkläger P.

Um 13:00 Uhr war der Nebenkläger P. als Zeuge geladen. Er war nicht erschienen, auch sein Anwalt konnte ihn nicht erreichen und wusste nicht, warum er abwesend ist.

Der Staatsanwalt regte an, die Anklagepunkte der Sachbeschädigung und versuchten Körperverletzung fallen zu lassen. Das Schwurgericht zog sich zur Beratung zurück und verkündete nach einer kurzen Pause, die besagten Anklagepunkte fallen zu lassen.

Auch nach der Beratung um 13:17 Uhr war P. nicht erschienen. Es wurde ein Ordnungsgeld i.H.v. 150,- Euro gegen ihn erhoben. P. wird nicht wieder vorgeladen, weil weder Richter, Staatsanwalt noch Verteidigung einen relevanten Wert in seiner Aussage sehen.

Sachverständiger Prof. Dr. Machleidt

Nun wurde dem Sachverständigen das Wort gegeben. Er wurde vom Gericht vorgeschlagen, nachdem die Verteidigung ein psychologisches Gutachten über Ramadans Verfassung beantragt hatte. Heute trug er ca. 80 Minuten lang mündlich die Ergebnisse des Gutachtens vor, welches auf Grundlage von 3 Gesprächen von insgesamt 10 Stunden verfasst wurde.

Wir wollen im Folgenden intensiv auf das Gutachten von Prof. Dr. Machleidt eingehen, da dieses Gutachten im Laufe des Prozesses eine wichtige Rolle spielt. Der Gutachter ist Experte für interkulturelle Psychiatrie sowie für Früherkennung und -behandlung psychischer Erkrankungen bei Migrant*innen.

Der Gutachter schilderte in einem ausführlichen Bericht die persönlichen Erfahrungen und den Werdegang Ramadans beginnend mit seiner Kindheit und Jugend und seiner Arbeit als landwirtschaftlicher Facharbeiter. Er schilderte eindrücklich, dass Ramadan sowohl in der Befragung, als auch generell in seinem Leben ein friedfertiger, ausgeglichener und eher zurückgezogener Mensch sei. Ramadan sei schon früh mit Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen konfrontiert worden, einerseits aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer „ethnischen Minderheit“ im Sudan, anderseits durch Gewalterfahrungen in der Familie.

Mit Mitte Zwanzig sollte Ramadan im Sudan zum Militär eingezogen werden. Weil er aber nicht in menschenrechtsverletzende Einsätzen im Dafur-Konflikt beteiligt werden wollte, entzog er sich und floh aus dem Sudan in das damals noch nicht von Bürgerkriegen erfasste Libyen. Nach dem Sturz Gaddafis wird Ramadan Opfer eines Raubüberfalls, in dem er unter Todesangst gefoltert wird. Der psychologische Gutachter stuft dieses Ereignis eindeutig als Traumaerlebnis ein und stellt fest, dass es bis heute eine starke Auswirkung auf Ramadans psychische Verfasstheit hat. Ramadan hat deswegen schon öfter darüber nachgedacht, sich in psychotherapeutische Behandlung zu geben und nach seiner Ankunft in Deutschland nach einem Therapeuten gesucht.

Die Unruhen in Libyen sind für Ramadan Grund sich nach Europa und schließlich Deutschland aufzumachen. Dort bekommt er die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen, weil er sich im Exil für eine oppositionelle Bewegung eingesetzt hat. Im Sudan droht Angehörigen dieser Gruppe ein Todesurteil.

Nach diesen Ausführungen kommt der psychologische Gutachter auf die vorgeworfene Tat zu sprechen und berichtet, dass sich Ramadan an den Beginn des Vorfalls erinnern kann. Er weiß noch, wie er und seine Freunde rassistisch beleidigt wurden und die Gruppe der Deutschen aggressiv auftrat. Er versuchte anfangs noch schlichtend einzugreifen, bis zu der Situation, in der sein Freund rücklings über den Fahrradständer geschubst wurde und am Boden liegend von M. noch mehrere Schläge ins Gesicht bekam. Nachdem sich Ramadans Freund A. nicht mehr bewegte, dachte Ramadan, dass er tot sei. Diesen Moment beschrieb der Gutachter als klar zu erkennende „Verhaltenszäsur“ und erkannte darin den Beginn einer Retraumatisierung, durch die Ramadan in einen inneren „Alarmzustand“ versetzt wurde. Darin ist er nicht in der Lage gewesen sein Verhalten zu steuern und nimmt die Wirklichkeit nur verzerrt wahr.

Ohne zu sehr auf die wissenschaftlich-psychologischen Details, die wir selber nicht beherrschen, einzugehen, können wir folgendes aus den Ausführungen des Gutachters festhalten: Bei Beginn einer Retraumatisierung kommt der Mensch in eine Situation, in der er vollkommen vom Affekt beherrscht wird und weder die Fähigkeit zur Einsicht, noch die zur Steuerung seiner Handlungen besitzt. Es gibt keine Möglichkeit der Reflektion oder Distanzierung. Der Mensch IST der Affekt und handelt seiner Logik entsprechend.

Insofern war die Entscheidung Ramadans, einen Stein zu holen und zu werfen, um M. damit davon abzuhalten, noch mehr Schaden anzurichten, nichts worauf er Einfluss hatte. Ramadan handelte nach Maßstäben des ursprünglichen Traumaerlebnis, in dem SEIN Leben bedroht war.

Nach dem vorgetragenen Gutachten kam es zur Befragung des Sachverständigen. Darin kam die Kernfrage des Tages auf. Die Frage nach der Schuldfähigkeit Ramadans in der konkreten Situation. Die Richter waren sichtlich verunsichert und überrascht, als nach der Anhörung klar wurde, dass der Gutachter in seinen mündlichen Ausführungen – im Gegensatz zum schriftlichen Gutachten, in dem er noch von einer verminderten Schuldfähigkeit sprach – überhaupt keinen Spielraum für Schuldfähigkeit in den relevanten zur Last gelegten Tathandlungen sieht. Auf eine explizite Nachfrage der Rechtsanwältin bestätigte der Gutachter, dass sich Ramadan nicht hätte dagegen entscheiden können, den Stein zu werfen, weil er aufgrund der Retraumatisierung keine Möglichkeit zur Reflektion hatte.

Der psychologische Gutachter ging ebenfalls auf die Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten ein und sagte, dass eine etwa zweijährige ambulante Pychotherapie mit einer Traumatherapeut*in die besten Heilungsprognose bieten würde. Er empfahl eine Auflage nur für die ersten 1,5 Jahre zu veranlassen, weil die Heilungsprognosen durch eine freiwillige Therapie erheblich verbessert würden. Auf Nachfrage der Verteidigung, ob eine solche Behandlung auch stationär vorgenommen werden könne, sagte der Gutachter, dass eine ambulante Therapie im Gegensatz zu einer stationären einen deutlich höheren Heilungserfolg versprechen würde.

Während des Vortrags des Gutachters war Ramadan sichtlich berührt.

Während der Ausführungen verhalten sich die hinter Ramadan und der Verteidigung sitzenden JVA-Mitarbeiter extrem unruhig, werfen sich Blicke zu und drehen sich auf ihren Drehstühlen hin und her, verbreiten eine unruhige Stimmung.

Nach der Befragung des Gutachters wurde der Verhandlungstag beendet.